Wie die Bewohner eines französischen Dorfes tausende als Juden verfolgte Menschen vor den Nazis retteten.
Artikel in der Wiener Zeitung vom 24. Juli 2021:
Diese Fünf-Zeilen-Meldung kam, mehr als Kuriosum denn als wichtige Ergänzung zur Zeitgeschichte, rund um den Jahreswechsel 2020/21 in die internationalen Medien: Ein Wiener, der vor Jahrzehnten nach Frankreich geheiratet hatte, vermachte einer Ortschaft in den Bergen sein Vermögen. Das beschenkte 2.500-Einwohner-Dorf im Massif Central, auf einem Hochplateau auf 960 Metern im Süden Frankreichs, heißt Le Chambon sur Lignon in der Haute Loire. Wer es auf der Landkarte sucht, findet es nahe (südwestlich) von Lyon und St. Etienne, noch näher bei Le Puyen-Velay.
„Hier liebt man Juden“
Die Lebensgeschichten des posthumen Spenders und der Bewohner des malerischen Dorfes treffen während des Zweiten Weltkriegs aufeinander, nachdem Hitler die lückenlose Verfolgung jüdischer Menschen ins Programm genommen hatte und das Ehepaar Oskar und Malcie Schwam mit Söhnchen Erich aus Österreich flüchten musste. Und (um es unzulässig kurz zu machen) nach Le Chambon sur Lignon kam.
In der kleinen calvinistischen Gemeinde, zu der auch umliegende Dörfer des Plateaus gehören, war es dem pazifistischen Pfarrer André Trocmé gelungen, der Bevölkerung klarzumachen, dass die Menschenjagden und Mordmaschinen aus Deutschland hier nicht funktionieren dürften. Und zwar im Namen des Glaubens und der Menschlichkeit und auch, weil es hier noch Höhlen gab, in denen sich die Vorfahren der Einwohner, verfolgte Hugenotten, geheim zu Gottesdiensten getroffen hatten.
Für die tiefreligiöse Bevölkerung dürfte es auch eine Rolle gespielt haben, dass es sich bei den Hilfesuchenden hauptsächlich um Angehörige des „von Gott auserwählten Volkes“ gehandelt hat. Die Parole war: „Ici, on a aimé les Juifs„, hier liebt man die Juden! Womit Pastor Trocmé und seine Familie und die Bevölkerung des ganzen Hochplateaus unglaubliche ethische Geschichte geschrieben haben.
Unter den tausenden jüdischen Emigranten, die nach oder durch Frankreich geflohen waren, teils in der Hoffnung, dort ein Hochseeschiff besteigen zu können, war das Wunder von Le Chambon bald bekannt und ein Nahziel, um zum Beispiel in die neutrale Schweiz zu gelangen.
Die Bürger von Chambon haben ausnahmslos alle Flüchtlinge, oft ganze Familien, freundlich aufgenommen. Da gab es eine ausgeklügelte Organisation, ein Netzwerk der Menschlichkeit. Jeder Bürger im Dorf hat seine Funktion erfüllt. Einer wusste immer, wo Betten frei waren, ein anderer wusste, wer mit wem zusammenpasste, andere führten die Verängstigten durch den Wald zu den Bauernhöfen, zu Schulen oder Kinderheimen, wo sie bleiben konnten. Meist war es Trocmé selbst, der falsche Papiere besorgt hatte. Einer warnte vor Gendarmerie oder SS. Wieder andere führten Gruppen in die neutrale Schweiz (wo es auch vorgekommen ist, dass die Schweizer Grenzer die Flüchtlinge an die Deutschen auslieferten). Wenn sie Juden über die 300 Kilometer zur Schweiz eskortiert haben, taten sie das im Bewusstsein, dass sie den selben Weg gingen, den schon ihre hugenottischen Vorfahren geflohen waren.
1942 war Albert Camus etwa ein Jahr lang nahe bei Le Chambon. Dort fing er an, „Die Pest“ zu schreiben, und in Teilen sind die Ereignisse von Chambon darin eingearbeitet.
Flüchtlinge aus Wien
In Chambon waren zu dieser Zeit auch Flüchtlinge aus Wien wie die Hamkers und Hilde Höfert, der spätere Künstler Kurt Conrad Loew, die Familie (meine Familie) des Arztes Dr. Walter Mautner mit Frau Grete und dem Buben Egon (der eine Woche vor dem deutschen Einmarsch in Österreich geboren wurde). Oder eben das Schulkind Erich Schwam mit seinen Eltern.
Die ebenfalls aus Wien stammende Künstlerin Elizabeth Koenig-Kaufman, eines der Kinder, das hier überleben durfte und nach dem Krieg in die USA ausgewandert war, schilderte die Stimmung später so: „Nobody asked who was Jewish and who was not. Nobody asked where you were from. Nobody asked who your father was or if you could pay. They just accepted each of us, taking us in with warmth, sheltering children, often without their parents – children who cried in the night from nightmares.“
1940 bis 1944 war es das Régime de Vichy, das die Ziele der Nazis vielfach gnadenloser umgesetzt hatte als die Besatzer selbst, dann waren es die nachrückenden deutschen Soldaten, die die motivierten Einwohner beharrlich auszutricksen hatten.
Das bis heute Erstaunliche war, dass es den Nationalsozialisten nicht verborgen geblieben sein konnte, dass hier gut 5.000 Menschen versteckt worden waren. Wenn jemand angehalten und gefragt wurde, was an sich schon gefährlich war, wo da Juden versteckt würden, so antworteten die Leute meist: „Juden? Was ist das? Nie gesehen!“, oder ähnlich.
Diese Idylle hielt nicht bis zur Befreiung. Wie überall, wo die braunen Stiefel auftraten, mussten auch mutige Bürger dieses Örtchens ihr Leben für ihre Hilfsleistungen opfern. Ihre Schicksale sind aufgezeichnet.
Heimliche Warnungen
Es waren vor allem Scharen jüdischer Kinder, die in Heimen betreut wurden, manche von schweizerischen Stiftungen finanziert. Die Nazis scheuten keine Mühen, gezielt kleine Kinder aufzuspüren beziehungsweise zu jagen, um sie zu ermorden.
Im gefährlich nahen Le Puy-en-Vilay herrschte der deutsche Kriegsverbrecher Klaus Barbie, der durch seine grausamen Verhörmethoden während des Zweiten Weltkriegs Berühmtheit als „Schlächter von Lyon“ erlangt hatte. Eines der Kinderheime, ein großes, so wird erzählt, wurde immer wieder telefonisch aus Le Puy gewarnt, wenn die Deutschen in der Nacht kommen wollten, um die Kinder abzuholen – was für diese den sicheren Tod bedeutet hätte. Das hat eine Weile gut funktioniert. Wer der anonyme Menschenfreund war, wusste niemand. Aber die Kinder liebten diese Nächte, ohne um die Gefahr zu wissen, weil spontan eine Nachtwanderung ins Programm genommen wurde.
Einmal hatte ein Sechzehnjähriger eine Nacht bei einem französischen Mädchen verbracht. Als er im Morgengrauen ins Heim zurückkam, war keines der Kinder mehr da. Sie waren in der Nacht von Deutschen abgeholt worden. Diesmal hatte niemand gewarnt.
Die Geschichte der Bürger Chambons samt den umliegenden Dörfern ist ein weltweites Vorbild für ethisches Verhalten, zivilen Ungehorsam und Menschlichkeit. Die Erlebnisse meiner Familie sind welche von tausenden. Sie wohnte zeitweise mit der Familie Schwam gemeinsam. In dieser Situation, in einem Versteck, wo weinende Babys ihre Familien verraten konnten, wurde ich im Mai 1944 (einen Monat vor D-Day) in einem kargen Bauernhaus geboren. Ich habe sogar eine offizielle Geburtsurkunde des Bürgermeisters. Im Geburtenregister der Gemeinde stehe ich als No. 22 dieses Jahres und mit der Adresse der Eltern. Was schon recht gewagt aussieht. Das haben sich die Deutschen nicht angesehen.
André Trocmé später in seinen Erinnerungen: „Doktor Mautner kam aus Wien und hatte einen fürchterlichen Akzent. Er war sehr mutig. Während des ganzen Krieges machte er die Küche und den Haushalt, damit seine Frau als Näherin in Le Chambon arbeiten konnte. Sie lebten dort versteckt. Wir liehen ihr unsere Nähmaschine, die den ganzen Krieg über lief. Monsieur Mautner konnte nicht als Arzt arbeiten, aber seine Frau arbeitete heimlich als Näherin. Jede Woche kam er, um sich den Waschkessel auszuleihen, und die Kinder lachten, weil er dann sagte: ,Matam’ la lessifeuse, s’il fous plaît.‘“
Meine Mutter hatte sich die Schneiderei beigebracht und letztlich mit mehreren Gehilfinnen für die Bürger der ganzen Umgebung, auch Damen aus Paris, geschneidert. Der Vater hat die ganze Emigrationszeit fotografisch festgehalten. Meine Familie hatte zeitweise gleichzeitig fünf verschiedene Unterkünfte gemietet, um je nach Bedrohung schnell den Ort wechseln beziehungsweise abtauchen zu können. Die Gendarmen, die natürlich besser Bescheid wussten als die Deutschen, praktizierten ihren Widerstand bisweilen auf ihre Art: Einmal rief einer meinen Vater an: „Herr Doktor, wir werden Sie morgen vormittags abholen!“
Eines Tages kam mein damals noch kleiner Bruder heim und erzählte, dass ein freundlicher Soldat dem Kind übers Haar gestrichen hatte. Hätte ihn der Soldat etwas gefragt, hätte das seinen sicheren Tod bedeutet. Er durfte also nicht mehr Deutsch sprechen und wurde bei einer Bauernfamilie versteckt. Als wir 1946 nach Wien kamen, konnte er kein einziges Wort Deutsch – aber Kühe hüten.
Die Leute, hauptsächlich einfache Bauern, waren wunderbar. Die Menschen haben alle geholfen, besonders engagiert war die dortige Armée du Salut, die Heilsarmee. Aber die Motivation und die Anleitung, der heilige Zorn, kam von Pastor Trocmé. Solange er in seinem kleinen Temple die Order ausgab, gab es zum Beispiel keine Résistance am Plateau. Es durften keine Waffen verwendet werden! Als er einmal für einige Zeit von den Soldaten aus dem Ort geholt wurde, waren die jungen Leute schnell unter Waffen.
Über das Wunder von Chambon wurden seither Bücher und Studien veröffentlicht. Wobei auch andere Orte in Frankreich ähnlich aktiv waren. Weltweit wird dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht, vor allem, warum sich (zuerst) der antisemitische État français des Vichy-Regimes und (dann) die deutsche Wehrmacht den gallischen Widerstand augenscheinlich hat gefallen lassen. In anderen von den Nazis eingenommen Städten wurde schon geringerer Widerstand brutal an die Wand gestellt. Eine plausible Erklärung für die scheinbare Nachlässigkeit könnte gewesen sein, dass die Wehrmacht den Ort und seine ordentliche Infrastruktur für die Rehabilitation ihrer an der Ostfront verletzten Offiziere brauchte. Chambon sur Lignon ist ein wertvoller Luftkurort. Daher auch bis heute die vielen Kinderheime.
Als Gerechte geehrt
Nach dem Krieg wurde Pastor André Trocmé in den Weltkirchenrat nach Genf berufen. Er starb vor rund 50 Jahren, am 5. Juni 1971: Wenige Monate zuvor wurden er und seine Frau Magda von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. 32 weitere Bürger von Le Chambon sur Lignon wurden mit diesem Titel ausgezeichnet, und 1990 ehrte Yad Vashem das Dorf mit einer besonderen Urkunde in Anerkennung des menschlichen Verhaltens seiner Einwohner während des Krieges. Trocmés gewaltfreier Einsatz für den Frieden lässt ihn aus der Sicht von Historikern in einer Reihe mit Martin Luther King, Mutter Teresa und Mahatma Gandhi stehen.
1949 kehrten Oskar und Malcie Schwam nach Wien zurück. Erich Schwam, mittlerweile zwanzig, blieb in Frankreich, schloss sein Studium ab, heiratete und machte Karriere in der Pharmaindustrie. Am 25. Dezember 2020 starb er in Lyon und hinterließ ein Testament, das die Welt auf Le Chambon sur Lignon und seine Bevölkerung aufmerksam werden ließ.
Erich Félix Mautner ist Autor und Journalist. Er schreibt hauptsächlich zu Themen aus Kunst und Recht und hat 50 Jahre lang eine Künstleragentur betrieben.