Wir schaufeln ein Grab in den Lüften“ schrieb Paul Celan im letzten Kriegsjahr in seiner „Todesfuge“ – zu einem Zeitpunkt, als das Morden der Shoah pausenlos weiter ging. Millionen von brutal Ermordeten war es nicht vergönnt, wenigstens eine Ruhestätte in der Erde zu erhalten, mit einem Grabstein, auf dem ihr Name eingemeißelt gewesen wäre. Stattdessen erhielten sie „ein Grab in den Lüften“, als Namenlose, denn nicht nur Freiheit und Leben waren ihnen von den Mördern geraubt worden, sondern auch ihre Namen, ihre Identität – ersetzt durch eine Nummer, in den Unterarm eintätowiert.
Deshalb sind diese im Boden eingelassenen Gedenksteine so unendlich wichtig – den Verschleppten, Ermordeten wird der Name zurückgegeben und an den jeweiligen Ort jenes Grauens erinnert, der für sie die Wegscheide zwischen Tod und Leben war. Ich gehe an keinem dieser Gedenksteine vorbei – der nächste ist gleich um die Ecke von meiner Wohnung, an der Argentinierstrasse, und einer der berührendsten ist wenige Schritte entfernt vom Teatro della Fenice, dem Opernhaus Venedigs – ohne einen Augenblick innezuhalten und an diesen Menschen, den ich nicht kenne, und dessen Schicksal ich nur ahnen kann, zu denken.
Das Ehepaar Gaensler, die Eltern meiner Großmutter, und Grete, deren Schwester, sind die einzigen in der Shoah ermordeten Familienmitglieder, deren Leidensweg genau registriert und mir folglich bekannt, in seiner ganzen Schrecknis entfernt nachvollziehbar ist. Ich weiß, dass sie keineswegs die einzigen Mordopfer in meiner Familie waren, ich habe gehört, dass es noch viele mehr waren. Aber von ihnen fehlt jede Spur, sie haben keinen Namen und kein Grab: Ihr Grab ist in den Lüften. Sie werden deshalb einen Gedenkstein erhalten, dieser soll auch an sie, die namenlosen Ermordeten erinnern.
Ich verdanke meine Existenz zwei völlig unterschiedlichen Umständen: Der Tatsache, dass mein Großvater noch zu Kaisers Zeiten in Siebenbürgen geboren wurde, das heute zu Rumänien gehört. Dies berechtigte ihn, meine Großmutter, meine Mutter und ihren Bruder zu einem rumänischen Pass – samt Schweizer Visum. Denn mit ihrem österreichischen Pass hätte man sie nicht mehr in die Schweiz gelassen, im Jahr 1939 – und wahrscheinlich hätte keiner von ihnen überlebt.
Und in der Schweizer Emigration drängte meine Großmutter den Großvater, ihren Eltern, den Gaenslers, nachzureisen – die nach einem Folter-Intermezzo bei der Gestapo im Hotel Metropol bei Nacht und Nebel nach Rotterdam geflüchtet waren, um von dort ins rettende Australien weiter zu reisen.
Mein Großvater hatte also für die vierköpfige Familie teure Schlafwagenkarten nach Rotterdam gekauft – doch im letzten Moment riet die kartenspielende Emigrantenrunde im Zürcher Kaffeehaus dringend davon ab, die sichere Schweiz für das unsichere Rotterdam zu verlassen. Mein Großvater zögerte und entschied dann so: wenn die Zug- und Schlafwagenkarten zurückerstattet würden, werde man in der Schweiz bleiben.
Der korrekte Schalterbeamte im Zürcher Hauptbahnhof handelte vorschriftgemäss: Er stattete die Tickets zurück- und rettete damit das Leben der Familie, und indirekt auch das ungeborene meinige: denn kurz darauf fiel die Wehrmacht in Belgien und den Niederlanden ein, meine Urgroßeltern hat die SS ins holländische Durchgangslager Westerbork verschleppt, dann weiter ins Todeslager Sobibor, wo beide am selben Tag, dem 23. Juli 1943, umgebracht wurden.
Dr. Charles Ritterband